Der Notenschatz in der Einöde

Still und abseits, ja fast bescheiden, liegt der kleine Einödhof Koblpoint in den Hügeln des östlichen Landkreises Landshut. Der Marienwallfahrtsort Wippstetten liegt nur einen Steinwurf weit entfernt. Kaum zu glauben, dass hier nicht nur der erste Biohof mit Milchkühen in der Gemeinde Kröning entstand, sondern vor über 250 Jahren außergewöhnlich bedeutsame Noten geschrieben wurden. Die begeistern heutzutage immer noch Musikanten aus nah und fern. Und sie sind der Grund, warum sich in der Einöde im Landkreis Landshut Musizierende aus der ganzen Welt treffen.

Einmaliges Musikerbe eines Biobauernhofes zieht Musiker aus der ganzen Welt an

Der zunächst unscheinbar wirkende Stapel Notenblätter, der hinter einen Schrank gerutscht war, wurde in den 80er-Jahren per Zufall beim Nachbarn bei Abbrucharbeiten gefunden. Kirchenmusik ist darauf festgehalten. Zudem beinhalten zwei dünne Notenheftchen Tanzmusik für zwei Geigen: 60 „Tyroller und Salzburger Däntz“, 1761 verfasst von Anna Maria Leyrsederin – und zwar auf dem Hof Koblpoint, was aus dem Original eindeutig hervorgeht. Damit sind diese Notenblätter wohl die älteste in Niederbayern gefundene Handschrift dörflicher Tanzmusik – das Erbe der Musik unserer Vorfahren.

Geheimnisvoll: Bäuerin konnte vor über 250 Jahren lesen und schreiben

„Wir wissen nicht genau, wer die Leyrsederin war“, berichtet Andrea Hauer. Sie erzählt von ihren Bemühungen, mehr über die rätselhafte Bewohnerin des Hofes herauszufinden, den die Familie Hauer seit 1951 besitzt. „Ich war schon öfters in Archiven, aber ich scheitere an den alten Schriften, die ich nicht lesen kann“, so die Landwirtin weiter. Man glaubt, Anna Maria Leyrsederin sei Bäuerin, Mesnerin und Kirchenmusikerin in der Wallfahrtskirche nebenan gewesen. „Das Ganze ist immer noch rätselhaft. Denn, dass Frauen lesen und sogar (Noten) schreiben konnten, war damals mehr als unüblich“, sinniert Andrea Hauer. „Es ist auch mysteriös, warum die Noten am Nachbarhof gefunden wurden. Vielleicht hat eine Tochter nach der Heirat die Hinterlassenschaften ihrer Mutter dorthin mitgenommen.“

„Reisendes Musikarchiv“ macht Musikerbe lebendig

Das musikalische Erbe selbst ist bis heute lebendig geblieben. Denn während die Originalnoten fachmännisch verpackt am Nachbarhof sicher verwahrt sind, haben sich österreichische Musiker des „Reisenden Archivs“ der alten Musikstücke angenommen. Einer davon ist Simon Wascher, der historische Tanzmusikquellen erforscht. Er hat sich intensiv mit dem Noten-Nachlass auseinandergesetzt, die Handschrift abgeschrieben und veröffentlicht. Wascher vermutet, dass die Leyrsederin Stücke, die wandernde Musiker in der niederbayerischen Region um Koblpoint spielten, wohl „nur“ aufgeschrieben und nicht selbst komponiert hat: „Sehr ungewöhnlich ist dabei, dass die Notenhefte für die Tanzmusik in zwei Stimmen aufgeschrieben wurden, das kennt man aus dieser Zeit nicht.“ Die Stücke selbst beschreibt er als außergewöhnlich und großartig: „Es ist eine gute Mischung aus interessanter Melodik, Einfachheit und Komplexität. Die Stücke sind abwechslungsreich, bieten Tonfolgen mit erstaunlichen Tonfarben, auf die man selbst nicht käme“, so der Experte weiter. „Für unsere Ohren klingt die Musik auch sehr exotisch, denn gemeinhin verstehen wir unter Volksmusik heute etwas ganz anderes.“

Musizierende aus aller Welt kommen in der Klause, dem kleinen Wirtshaus neben der Wallfahrtskirche, zusammen. Beim Treffen wird nach den alten Noten der Leyrsederin musiziert und getanzt.  Foto: Anton Hacker

Volksmusik von anno dazumal

Mit Volksmusik, wie wir sie heute kennen, hat das musikalische Erbe der Region also nicht viel zu tun. Wascher erklärt: „Alleine das moderne Instrumentarium gab es damals noch gar nicht. Gespielt wurde mit Geige und vielleicht noch mit Hackbrett. Seit damals hat sich die gesamte Volksmusikpraxis komplett gewandelt.“ Umso interessanter ist es für den Musiker, die alten Stücke nachzuspielen und auch den kulturellen Kontext der damaligen Zeit zu beachten. Denn auch mit der heutigen Vorstellung eines Open-Airs oder abendlichen Discobesuchs haben die Tanztreffen unserer Vorfahren wenig zu tun: „Man muss sich vorstellen, dass die Leute damals wenig Zeit hatten und sich nur zu bestimmten Anlässen zum Tanzen getroffen haben. Zudem wurden derartige Feste sehr stark von der Kirche reglementiert, auch zeitlich“, weiß der Forscher. Musiker seien damals wohl eher Bauern von kleinen Höfen gewesen, die im Nebenerwerb noch ein Zubrot verdienen mussten. Sie seien von Veranstaltung zu Veranstaltung gegangen, wie zum Beispiel Hochzeiten, und hätten dort gegen kleines Entgelt musiziert. 

Wippstettener Tanzboden bebt nach historischen Noten 

Wie sich die Tanztreffen früher angefühlt haben, das versucht der Musikforscher zusammen mit der Familie Hauer und anderen Musikern so lebensecht wie möglich beim jährlichen, inzwischen schon traditionellen Musikantentreffen nachzuerleben. Musizierende aus aller Welt kommen in der Klause, einem kleinen Wirtshaus neben der Wallfahrtskirche, zusammen. Beim Treffen wird nicht nur nach den alten Noten der Leyrsederin musiziert und getanzt, sondern gemeinsam gekocht, Brot gebacken und versucht, das Leben und die dörfliche Tanzmusik von damals zu erspüren. Wie sich die Tanzmusik von damals anhört, haben Simon Wascher und die Tanzhausgeiger auch in einem Video interpretiert.

Koblpoint: Musikalisches Erbe und Biolandwirtschaft 

Für die Bewohner des Koblpoint-Hofes, die die Musikanten ein Wochenende lang zum Übernachten in ihrem Haus aufnehmen wie Familienmitglieder, fühlt sich das Musikantentreffen an wie Urlaub. Juniorbauer Andreas Hauer ist seit eineinhalb Jahren Wirt der Klause, die fußläufig vom Hof zu erreichen ist. Er liebt die Gemeinschaft und die Musik, hat selbst aber – im Gegensatz zum Rest seiner Familie – zum Musizieren eher wenig Talent, wie er schmunzelnd verrät. Seine Qualitäten liegen in der Landwirtschaft. Mit dem Blick zu seinen 28 Milchkühen, die Horn tragen und sich frei auf der Weide bewegen dürfen, erzählt er von seinem holprigen Weg zum Biolandwirtschaftsmeister. „Ich wollte immer konventionell wirtschaften, mit größeren Traktoren und immer mehr Kühen. Als meine Eltern dann auf Bio umstellen wollte, war es ein richtiger Schock. Im Nachhinein war aber das Auseinandersetzen mit der ökologischen Landwirtschaft für mich der einzig richtige Weg.“

Für Generationen: Historische Musik und moderne Bio-Landwirtschaft

Als einer der wenigen Biobauern setzte er sich mit seinen neugewonnenen ökologischen Ansichten als „Exot“ in der Berufsschule durch, zeigte mit wilden Rastas sein Aufbegehren gegen das „Ausbeuten der Tiere, gegen Spritzmittel und dem Streben nach immer höherer Rendite“, wie er sagt. Jetzt, mit 29 Jahren, braucht er die Dreadlocks nicht mehr. Der mit beiden Beinen im Leben stehende Biobauer aus Leidenschaft hilft deutschlandweit anderen Landwirten auf dem Weg zum Biobauern mit Meisterbrief, bekocht die Gäste der Klause mit eigenen Produkten und gibt zusammen mit seinen Eltern auf seinem Erlebnisbauernhof den ökologischen Gedanken auch an Schulklassen oder Besuchergruppen weiter. 

So ist nicht nur das einzigartige musikalische Erbe Niederbayerns, sondern auch das landwirtschaftliche Erbe des Koblpoint-Hofes für die nächsten Generationen gesichert …

Wie sich die Tanztreffen unserer Vorfahren angefühlt haben, das versuchen Musiker so lebensecht wie möglich beim inzwischen schon traditionellen Musikantentreffen nachzuerleben. Foto: Andrea Hauer
Die Originalnoten liegen fachmännisch verpackt und sicher aufbewahrt im Nachbarhof der Hauers, dort, wo sie auch gefunden wurden. Foto: Andrea Hauer
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